Zu Besuch in der 1. Klasse

Die Schulentscheidung steht für viele Eltern der kommenden Erstklässler*innen vor der Tür. Und vielen ist klar, an der Steiner Schule ist es irgendwie anders. Aber was genau ist eigentlich anders und was erwartet die Schüler*innen und ihre Eltern an unserer Schule? Wir haben die aktuelle 1. Klasse und ihre Klassenlehrerin Jasmin Kassner einen Vormittag begleitet und geben einen Einblick, worauf Sie und Ihre Kinder sich freuen dürfen. 

Es ist 8.10 Uhr. Die Schulglocke klingelt. Grosse und kleine Schüler*innen drängen ins Schulhaus. Als sich der Trubel lichtet, tritt Jasmin Kassner, Klassenlehrerin der 1. Klasse, aus der Tür. Die Jüngsten sind noch auf dem Schulhof und sammeln sich sofort aufgeregt um ihre Lehrerin. In Ruhe sollen sie erst einmal ankommen und gemeinsam ins Klassenzimmer gehen. Sie bilden einen grossen Kreis. Alle halten sich an den Händen. Es wird Kontakt aufgenommen. Sind alle da? Wer darf die Kette aus Erstklässler*innen ins Schulhaus anführen?Hand in Hand geht es dann zum Klassenzimmer. Alle verstauen ihre Kleider an der Garderobe, schlüpfen in ihre Finken und werden von Jasmin Kassner einzeln begrüsst, bevor sie sich an ihre Plätze setzen. Mit dem Morgenspruch startet die Klasse in den Vormittag. 

Alles im Rhythmus

Die Schüler*innen wuseln durch den Klassenraum. Alle treffen sich vor der Tafel. „Körner picken, ticketack…“ schon sprechen sie ihren ersten Reim, den sie durch passende Bewegungen ergänzen. Der rhythmische Teil des Hauptunterrichts beginnt. Jeder Vormittag an der Steiner Schule folgt derselben Struktur. Besonders in der so aufregenden, neuen Zeit des Schulbeginns bietet das einen sicheren Rahmen für das Ankommen als Schulkind. Bis zur grossen Pause, in den ersten beiden Schulstunden, sind die Kinder mit ihrer Klassenlehrerin zusammen. Sie werden „geweckt“, sind künstlerisch aktiv und verbinden sich als Klasse im rhythmischen Teil, der jahreszeitlich bzw. zum Unterrichtsstoff passende Sprüche, Lieder und Gedichte als Inhalt hat und den ganzen Körper einbezieht. "Es ist ein gemeinsames Einstimmen auf den Tag, das die Kinder strahlen lässt“, sagt Jasmin Kassner.

Danach beginnt der Arbeitsteil mit der Wiederholung dessen, was tags zuvor Thema war. Er ist jeweils Teil einer sogenannten Epoche, d.h. eines drei- bis vierwöchigen Zeitraumes, in dem sich die Klasse einem Fach widmet. Es wechseln sich in der ersten Klasse alle paar Wochen Schreiben und Lesen, Formenzeichnen und Rechnen ab und laden zum tiefen Eintauchen ein. Dementsprechend „nachhaltig werden die Themen bearbeitet“, erklärt Jasmin Kassner, „und im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Dabei spielt der Schlaf zwischen den Schultagen und auch das Vergessen bzw. Wiederhochholen „der Schätze“ am nächsten Tag eine große Rolle für den Lernprozess.“

Im Arbeitsteil folgen das Erarbeiten neuer Lerninhalte und die Verschriftlichung des Gelernten in den Epochenheften, bevor der Erzählteil den Hauptunterricht abschliesst. „Als Lehrkraft strebe ich einen lebendigen, rhythmisch gestalteten Unterricht an, der den Kindern ermöglicht seelisch ein- und auszuatmen, d.h. einen Wechsel zwischen Ruhe und Bewegung, der Arbeit mit dem Kopf und der Arbeit mit den Gliedmassen, Eigentätigkeit und gemeinsamen Schaffensphasen“, gibt uns Jasmin Kassner Einblick in ihre Arbeit. 

Von der Tafel in den Kopf

Die Tafel wird aufgeklappt. Zum Vorschein kommt ein zartes, harmonisches Tafelbild: drei Zwerge zwischen in Pastellfarben funkelnden Edelsteinen im Braun einer Höhle. Das Bild „untermalt“ den Reim, den die Kinder mit Gesten und Bewegungen in der Gruppe vortragen: „Es buckeln und huckeln die Gnome vom Berge / Mit Kiepen und Körbe die Wichteln und Zwerge / Von Klippen und Klüften hinunter zur Klause / Zu bergen die Schätze im schützenden Hause…“ (1) Das Tafelbild ist ein wichtiger Teil der Lernumgebung der Schüler*innen. Mit grosser Sorgfalt werden Lerninhalte vom*von der Klassenlehrer*in in grossflächige Bilder übertragen, ein „Geschenk an die Schüler*innen“ (2). Oft ist es ein Bild aus dem Erzählstoff des Vormittages oder in dem Fall eines, das den rhythmischen Teil erinnern lässt und den Kindern hilft, eigene innere Bilder entstehen zu lassen, die mit Gefühlen verknüpft werden. Bilder wecken Gefühle und die Verknüpfung der bildlichen Darstellung und der dahinter liegenden Emotion, lässt die Kinder leichter aus dem Gedächtnis hervorholen, was bereits gelernt wurde. Zugleich schulen die Bilder „die Wahrnehmung und das ästhetische Empfinden“ (3).

Das eigene Lehrbuch

Den Blick für das Schöne lernen die Kinder auch bei der Gestaltung ihrer Epochenhefte im Arbeitsteil. In der 1. Klasse ist gerade die Epoche Formenzeichnen an der Reihe. Jasmin Kassner erklärt den Inhalt dieses Unterrichtsfachs, das es in der Form nur an Steiner Schulen gibt: „Mit grossen schwingenden Bewegungen erüben die Kinder wesentliche Grundformen wie Gerade, Kreis, Oval, Spirale, Spiegel- und Sternformen. Das Formenzeichnen ist eine bereichernde Vorbereitung für spätere Schreibprozesse. Es werden viele wichtige Fertigkeiten angelegt, die wir mit jedem Buchstaben wieder brauchen.“ 

Die Tafel schmückt bereits eine sich in der Mitte, an einer Waagerechten spiegelnde Form, die gemeinsam erarbeitet wurde. Alle Finger schnellen in die Höhe, jeder*r möchte gerne die Epochenhefte verteilen. Mit Hingabe werden die Mäppchen mit Wachskreiden und -stiften ausgerollt, das Heft auf der nächsten leeren Seite aufgeschlagen, die Seite mit einem Strich unterteilt, der Hintergrund in unterschiedlichen Farben mit einem zarten Farbschleier versehen. Dann geht es daran, die Form zu übertragen. Jasmin Kassner ist in den Reihen unterwegs, unterstützt, schaut, wer vielleicht schon fertig ist und einen weiteren Auftrag braucht. „Die Arbeit im Epochenheft ermöglicht den Lernenden sich viel intensiver mit dem Unterrichtsstoff zu verbinden als zum Beispiel mit Arbeitsheften der Schulverlage“, sagt sie. Die Kinder stellen gewissermassen ihre eigenen Lehrbücher her, die „Facetten der Persönlichkeit eines jeden Kindes zeigen“, so die Klassenlehrerin. 

Guck mal, Mama!

Die selbst gestalteten Hefte fallen auch den Eltern positiv auf. „Die Kinder sind so stolz auf ihre Epochenhefte, die sie mit viel Liebe und Sorgfalt erstellen“, sagt eine Mutter. So wird fast nebenbei eine besondere Wertschätzung gegenüber dem Material vermittelt, wie es z.B. auch bei der Einführung der Wachsmalstifte und -kreiden geschieht. Erst nach und nach füllt sich das Mäppchen der Kinder mit neuen Farben. „Jeden Tag wurde bei uns zuhause mit einem „Guck mal Mama!“ das Mäppchen aufgerollt und sich über eine neue Farbe gefreut. Diese Achtsamkeit für das Material schätze ich sehr – dass es als etwas Besonderes eingeführt wird“, berichtet eine weitere Mutter. Jetzt freuen sich alle auf die Flöten, die sie bald bekommen werden und die dann zum Schulmorgen dazu gehören.   

Für den Erzählteil gibt es im Klassenzimmer extra eine Sitzecke, in der die Kinder im Kreis Platz nehmen. Jasmin Kassner beugt sich nach vorne und liest. In der 1. Klasse sind vor allem Märchen Teil des Erzählstoffes, aber auch jahreszeitlich passende Geschichten. Die Kinder können noch einmal in ihre Fantasie eintauchen, bevor es Znüni gibt und die grosse Pause beginnt. 

Vielfalt im Fachunterricht

Auch der Fachunterricht strukturiert die Woche der Kinder: Heute ist Eurythmie und Handarbeit, heute ist Donnerstag. Eurythmie ist eines der Unterrichtsfächer, die nach der grossen Pause folgen (unter "häufige Fragen" finden Sie weitere Informationen zum Fach Eurythmie), ebenso wie das Fach Handarbeit fester Bestandteil der Woche ist. Der kreative Unterricht fordert und fördert die Konzentration und Geschicklichkeit der Schüler*innen. Im ersten Halbjahr haben die Erstklässler*innen schon mit dem Stricken begonnen. Alle werkeln an ihren kleinen Zwergen und sehen, „wie Dinge aus einem einfachen Faden entstehen können“, freut sich eine Mutter.  

Von Beginn an werden ausserdem die Fremdsprachen Englisch und Französisch mit Reimen, Liedern und Gedichten eingeführt. Die Kinder lernen den Klang der Sprachen kennen, begleitet von Gestik, Tonfall und Mimik, und erweitern durch das eigene Sprechen fremder Laute ihre Sprachkompetenz. In den unteren Klassen wird dabei die „kindliche Spontanität des Ausprobieren-Wollens“ (4) und der Nachahmung genutzt, die noch nicht gehemmt ist, wie es in den höheren Klassen oft der Fall ist. Der Lehrplan für die Elementarstufe der Rudolf Steiner Schulen Schweiz und Liechtenstein weisst ausserdem auf den engen Zusammenhang des Fremdsprachenunterrichts mit der „soziale[n] Kompetenz und einer ethisch-moralischen Wertehaltung“ (5) hin. „Durch die Fremdsprachen werden die Kinder zudem auch vertraut mit anderen Kulturen und lernen, das Andersartige nicht mehr als «fremd» zu empfinden (interkulturelles Lernen)." (6)

Spielturnen und Musik sind weitere Fächer, die von Beginn an in den Unterricht integriert und an der RSSK ab der 3. Klasse (Turnen) bzw. 5. Klassen (Musik) von Fachlehrer*innen übernommen werden. Einmal in der Woche wird zudem mit dem*der Klassenlehrer*in Aquarell gemalt. In sogenannten Farbgeschichten wird das „Wesen der einzelnen Farben“ mit den Kindern herausgearbeitet und mit der Nass-und-Nass-Technik die Wechselwirkung der Farben erlebbar. 

Auf in den Wald

Der Waldtag schliesst am Freitag die Woche ab. Begleitet von Naturpädagoge Adrian Gut und einem Schulvater marschiert die kleine Gruppe morgens zur Bushaltestelle. Markus Witzig, Klassenlehrer der 2. Klasse, geht seit der 1. Klasse auch mit seinen Schüler*innen regelmässig in den Wald. Aus seiner positiven Erfahrung berichtet er: „Der Wald deckt unsere elementaren Bedürfnisse wunderbar ab. Wir haben Bewegung, sind gemeinsam unterwegs, haben die Hände in der Erde und wärmen uns am Feuer. Um uns weht der frische Wind und wir dürfen in Begleitung der Tiere und der Jahreszeiten sein.“ Gemeinsam trifft sich die Klasse am Feuer zum Singen, Essen und Geschichte hören. Dazwischen haben die Kinder Zeit, „um praktische Erlebnisse zu sammeln“, sagt Markus Witzig. „Schnitzen und kreatives Gestalten mit Materialien aus dem Wald stand dieses Semester im Fokus“ – aber auch Staudämme bauen, Bäume erklettern, Hütten und Zwergenhäuser errichten oder Balancieren. „Für die Kinder bringt der Waldtag viel Freiraum auf allen Ebenen und Gelerntes raus in die Welt. Immer wieder durchmischt sich die Gruppe neu und es entstehen andere Seilschaften als im Schulzimmer“, so Markus Witzig. „Das ist Gold wert“, sagt eine Mutter. 

Vorfreude auf den nächsten Tag

Den Übergang vom Kindergarten in die Schulzeit erleben die Eltern als „langsam und sanft“. Dies beginnt bereits mit der Einschulungsfeier – ein „sehr besonderer Tag“ für Klassenlehrerin Jasmin Kassner. In herzlicher und gemeinschaftlicher Atmosphäre werden die Kinder im Kreise ihrer Eltern, Verwandten und Freund*innen, genauso wie von den Kindergartenkindern und der Patenklasse willkommen geheissen. Hier zeigt sich schon, das „harmonische Ganze von Kindern, Eltern und Lehrpersonen“, von dem uns eine Mutter erzählt. „Alle freuen sich auf die Erstklässler*innen“, schwärmt sie – so auch Jasmin Kassner, die als Klassenlehrerin ihre Schüler*innen bis zur 8. Klasse in ihrer Entwicklung begleiten, sie in ihrer Persönlichkeit kennenlernen und bei Problemen unterstützen wird. Im liebevoll geschmückten Klassenzimmer beginnt traditionell das Kennenlernen mit der ersten Schulstunde. Die Kinder hören eine Geschichte und zeichnen die Gerade und die Krumme. Die Vorfreude auf die kommenden Schultage ist geweckt.


Eigene Hausaufgaben

Und diese Vorfreude bleibe erhalten, wie eine Mutter berichtet. Ihre Tochter wolle auf gar keinen Fall einen Tag fehlen und sei immer aufgeregt, was wohl am nächsten Morgen passiere – welcher Buchstabe an der Reihe sei, welcher Stift neu ins Mäppchen wandere. Am Nachmittag würde sie sich „ihre eigenen Hausaufgaben machen“, mit Freude zuhause weiter am Gelernten arbeiten bzw. das Gelernte wiederholen. „Ich finde es wunderschön, wenn die intrinsische Motivation so geweckt wird, dass sich das Kind von sich aus mit dem Unterrichtsstoff weiterbeschäftigt“, freut sie sich. Sie führt das darauf zurück, dass „der Blick immer auf dem Kind ist“, sagt sie und darauf wie gelernt wird: das Ansprechen aller Sinne, das Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“, die Sicherheit der wiederkehrenden Struktur, das eigene Gestalten und somit die individuelle und tief gehende Verbindung mit dem Schulstoff und die Achtsamkeit, mit der der Unterricht und die Beziehung zwischen Kindern, Lehrpersonen und Eltern gestaltet wird. 

 

  • Weitere Informationen zum Unterricht an unserer Schule finden Sie hier: Klasse 1 – 8
  • Auf folgender Seite finden Sie aktuelle Termine für Infoabende zur Einschulung: Infoabend
  • Lesen Sie gerne auch unseren Bericht zur Einschulungsfeier: 16 neue Erstklässler*innen

 

Quellen

(1) Garff, Marianne, Es buckeln und huckeln in: Ruß, Johanna, Schwinge, Schwengel, Schwinge/ Kinderlieder, 1965, S. 5.

(2) Kern, Katharina, Tafelbilder – ein Geschenk an die Schüler, https://www.erziehungskunst.de/artikel/tafelbilder-ein-geschenk-an-die-schueler (abgerufen am 03.01.2025).

(3) Ebd.

(4) Pohl, Vanessa, Fremdsprachenunterricht in: Brodbeck, Heinz, Thomas, Robert (Hrsg.): Steinerschulen heute. Ideen und Praxis der Waldorfpädagogik, ZbindenVerlag, Basel, 2019, S. 126.

(5) Arbeitsgemeinschaft der Rudolf Steiner Schulen Schweiz (Hrsg.): Lehrplan Elementarstufe, Kindergarten und 1./2. Klasse der Rudolf Steiner Schulen Schweiz und Liechtenstein, überarbeitete Neuauflage 2020, https://steinerschule.ch/wp-content/uploads/2020/09/Rudolf-Steiner-Schule-Lehrplan-Elementarstufe_DE_Webfassung.pdf (abgerufen am 03.01.2025), S. 26.

(6) Ebd., S. 26.

 

Text und Fotos: Anika Mahler

Zurück

Impressum Datenschutz ©Rudolf Steiner Schule Kreuzlingen 2025

Einstellungen gespeichert

Es werden notwendige Cookies, Logaholic, OpenStreetMap, Youtube geladen!

You are using an outdated browser. The website may not be displayed correctly. Close