Ein Vormittag im Kindergarten

Im Steiner-Kindergarten ist es anders. Doch was macht den Unterschied? Begleiten Sie die Kinder und ihre Erzieherinnen einen Vormittag lang von der Bringzeit, über Freispiel, Aufräumzeit, Reigen, Z'nüni, Gartenzeit bis hin zu Puppenspiel und Abschlusskreis.

Aus Wurzeln und Holzklötzen steht in einer Spielecke eine Ritterburg, davor ein Haus aus Tüchern, ein „Hund an der Leine“ kommt „bellend“ heraus. In der Kinderküche wird gekocht, am Tisch angerichtet, Wasser als Kaffee in die Tassen gegossen. Dazwischen reiten Kinder auf Steckenpferden vorbei. Bänke und Stühle bilden Zoogehege, es ist gerade Fütterung. Ein Kind kurbelt an der Haferquetsche, um die Haferflocken für das Frühstück herzustellen. Am Tisch sitzen zwei Kinder und malen mit Aquarellfarben. Der Tag im Steiner-Kindergarten beginnt mit dem Freispiel. Parallel dazu gibt es je nach Wochentag unterschiedliche Angebote, die von den Kindern genutzt werden können: „Nass in Nass“ (Aquarellmalen), im zweiten Halbjahr Zeichnen, Brötchen kneten und backen, Bienenwachskneten, Bastelarbeiten. Manche Kinder kommen direkt an den gerichteten Tisch, andere gehen erst einmal spielen und nutzen das Angebot erst später.

Projekte für die Vorschulkinder

Während der Bringzeit von 7.45 bis 8.30 Uhr begrüsst Kindergärtnerin Monika Scherrer der Melissen-Gruppe herzlich jedes neu ankommende Kind. Danach bleibt den Kindern noch genug Möglichkeit zum freien Spiel. Es ist auch die Zeit, in der die Vorschulkinder an ihren Projekten arbeiten können. Spezielle Angebote für die Kinder im zweiten Kindergartenjahr sind Weben, Filzen, Fingerhäkeln und eine Werkbankarbeit. So werden sie vermehrt auf die Schulzeit vorbereitet, Ausdauer und Geschicklichkeit geschult. „Ausserdem binden wir die Vorschulkinder noch mehr in den Tagesablauf ein. Sie dürfen zum Beispiel beim Essen einschenken, draussen das Seil schwingen beim Seilspringen und gleichzeitig achten wir bei den Fingerspielen vermehrt darauf, dass sie genau mitmachen“, sagt Monika Scherrer.

Aufräumzeit mit Hängematte und Luftballon

„Ufrumä, ufrumä jetzt isch Ziit, luäget, dass alles verrumät isch, tschimbo, tschimbo, tirilirili, jetzt muäs alles ufgrumet sii.“ Es ist Aufräumzeit – auch im Kindergarten Rosmarin, der von den Erzieherinnen Magdalena Tschudin und Sophia Riebel betreut wird. Erst ganz am Ende des Freispiels wird von allen aufgeräumt. Zwischendurch bleibt alles liegen und stehen. Magdalena Tschudin erklärt den Hintergrund dazu: „Für die Kinder ist der Spielwechsel nicht gleichbedeutend mit einer Unterbrechung des Spielflusses. Müssten die Kinder erst das eine Spiel oder die Spielecke aufräumen, bevor sie etwas anderes spielen, würde man sie ständig aus ihrem Spielfluss reissen. Daher wird bei uns erst ganz am Ende aufgeräumt, bevor wir zum Reigen übergehen.“ Dann gehen „die Rössli wieder in den Stall“, die „Puppen schlafen“. Bewusst achten die Erzieherinnen auf eine bildhafte Sprache beim Aufräumen. Mit zusätzlichen kleinen Ritualen wird auch aus dem Aufräumen ein Spiel wie zum Beispiel beim Tücher zusammenlegen: „Hängematte, Hängematte, Luftballon, Luftballon“ – mit einem Lachen im Gesicht spannen zwei Kinder ein Tuch zwischen sich und schwingen es zu ihrem Spruch in die Luft, dann wird es sorgfältig zusammengelegt und an seinen Platz geräumt.

Viel Raum für die eigene Fantasie

Wurzeln, Steine, Muscheln, natürliche, einzigartige Holzklötze, Tücher, eine Wanne mit Kastanien, Schneckenbänder, also lange, gehäkelte Bänder, die wahlweise zum Beispiel zum Festbinden von Gegenständen, als Hundeleine oder Pferdegeschirr verwendet werden – das Spielmaterial im Kindergarten unterscheidet sich von dem Üblichen im heutigen Kinderzimmer. „Die Spielsachen lassen immer viel Raum für die eigene Fantasie. Ein Tuch ist erst einmal nur ein Tuch. Es braucht etwas vom Kind selbst, damit daraus eine Wiese oder ein Rock wird“, berichtet Magdalena Tschudin. „Im Kindergartenalter ist die Hochphase der Fantasie. Alles wird umfunktioniert.“ Man kennt das von Zuhause: Der Tisch wird zur Höhle, das Kissen zum Puppenbett. Dazu sagt Monika Scherrer: „Uns ist es wichtig, dass wir ein Ort der Fantasie sind. Kein Lernspiel ist da, das das Kind auf eine Lösung 'festlegt', die alleine richtig oder falsch ist und somit gut oder nicht gut bewertet wird. Die Schaffenskräfte der Kinder haben dank der Offenheit des Spielzeugs einen uneingeschränkten Raum.“

Miterleben im Reigen

Jeden Tag, ausser am Donnerstag, an dem Eurythmie für die Kinder stattfindet, gibt es eine Viertelstunde, die Reigen und Fingerspielen gewidmet wird. Über mehrere Wochen werden in der Gemeinschaft aller Kinder dieselben Lieder, Verse und Bewegungen wiederholt. Dabei geht es um Sprachbildung, Verbesserung fein- und grobmotorischer Bewegungen, Raumorientierung und Gemeinschaftsgefühl. „Wir nehmen durch unsere Bewegungen an allem teil: säen, backen, auch Blume-, Zwerg-, Hirte-sein. Mit den menschlichen Arbeiten, mit der Natur und dem Jahreslauf leben die Kinder mit, von Kopf bis Fuss“, sagt Monika Scherrer.

Sicherheit und Orientierung durch Rhythmisierung

Reigen und Fingerspiele sind mit ihrer Thematik den Festen wie Dreikönig, Fasnacht, Ostern, Johanni, Erntedank, Michaeli, St. Martin, Weihnachten und den Jahreszeiten angepasst, die dem Kind im Jahreslauf als roter Faden dienen. Vor allem im zweiten Kindergartenjahr entsteht so auch Vorfreude, berichtet Sophia Riebel: „Hat das Kind in einem Jahr in der Fastnachtszeit den Kasper miterlebt, freut es sich schon auf das nächste Jahr, wenn der Kasper wieder in den Kindergarten kommt.“ Die rhythmische Wiederkehr der Themen im Jahreslauf, aber auch der festgelegte Tagesablauf und die regelmässige Wochenabfolge mit einem bestimmten Angebot und Essen an jedem Wochentag geben dem Kind Sicherheit. „Die Kinder können sich so im Wochenrhythmus orientieren. Sie wissen: Heute gab es Suppe, also geht es morgen auf den Bauernhof“, so Sophia Riebel.

Kleine Welten auf dem Jahreszeitentisch

Jahreszeiten und Feste begleitet auch der Jahreszeitentisch im Kindergarten. Mit Naturmaterialien, Tüchern, Pflanzen und gefilzten Figuren erschaffen die Kindergärtnerinnen liebevolle Landschaften, die thematisch mit den Jahresfesten oder Welten aus Geschichten zusammenhängen, die die Kinder aus dem Kindergarten kennen – wie in der Winterzeit „Olles Reise zu König Winter“ oder „Etwas von den Wurzelkindern“ im Frühling. „Die Kinder finden den Jahreszeitentisch zu Beginn der Kindergartenzeit einfach schön und schauen immer, ob sich etwas geändert hat. Später können sie dann einordnen, wie das Ausgestellte in den Jahreslauf passt und wissen, welche Figuren, wann ihm Jahr an der Reihe sind,“ erklärt Monika Scherrer.

Zusammen kochen und essen

Nicht nur beim Reigen und bei den Fingerspielen ist Nachahmung und Gemeinschaft extrem wichtig. Jeden Tag sehen die Kinder, wie das Z'nüni im Kindergarten zubereitet wird und beginnen schon bald mitzuhelfen. „Die Kinder erleben den Erwachsenen und sich selbst als sinnvoll tätig. Sie helfen sehr gerne beim Z'nüni richten. Heute sind viele Abläufe den Kindern gar nicht mehr ersichtlich. Es ist etwas anderes, das Gemüse für die Suppe selbst zu schneiden, die Brötchen zu formen und in den Ofen zu schieben oder einfach einen fertigen Riegel aus dem Rucksack zu nehmen“, begründet Magdalena Tschudin ihr Vorgehen. Kochen, Aufräumen, Abwaschen, Fegen – die alltäglichen Verrichtungen sind wichtiger Bestandteil des Konzepts, sagt auch Monika Scherrer: „Wenn die Kinder die Arbeit der Kindergärtnerin miterleben, findet ihr Bedürfnis zur Nachahmung sinnvolle Nahrung. Den Kindern ist ihr Spiel 'Arbeit', meine Arbeit und ihr Spiel geben dem Kindergartenraum die Atmosphäre des aktiven, wirklichen Lebens.“ So ist es selbstverständlich, dass zwei der Kinder nach dem Essen beim Abwasch helfen.

Freude am Draussensein

Auch im Garten begegnen einem Kinder auf Steckenpferden und auf Stelzen. Es wird gegraben, geharkt, gerannt, gegärtnert und auf den neuen Spielgeräten geschaukelt, gerutscht und gewippt. Eine nochmal andere Dynamik ist spürbar. Man merkt die Freude am Draussensein. „Ich habe einen Edelstein gefunden!“, ein Kind kommt begeistert zu Monika Scherrer gerannt. Der Sandkasten ist offenbar eine richtige Schatztruhe. „Auch draussen in der Natur verbindet uns vor allem das Tun mit der Welt“, sagt die Erzieherin. „Mit den Jahreszeiten ändern sich Arbeiten und Spiele. Was die Natur gibt, wird Spielmaterial: Schnee, Blätter, verwelkte Blumen und Kirschenstiele. Alles ist in Bewegung, das Draussensein löst Glück aus.“

Strahlende Augen bei der Abschlussgeschichte

„Leise, leise aufgepasst, was soll das bedeuten, wenn du gute Ohren hast, hörst du etwas läuten, bim, bam, bim, bam, bum“ – mit roten Backen versammeln sich die Kinder in freudiger Erwartung noch einmal in ihrem Kindergartenraum. Vor dem Abschlusskreis im Garten ist Zeit für eine Geschichte, meist als Puppenspiel von der Erzieherin vorgeführt. Wie Reigen und Lieder fügt sich das Puppenspiel in den Jahreslauf ein. Zwar gibt die Geschichte mehr vor als die Spielsachen im Kindergarten, dennoch bleibt genug Platz für Dinge, die aus der eigenen Fantasie hinzugefügt werden. So wird der Vorstellungsraum, der laut Sophia Riebel auch für das spätere Schullernen zum Beispiel beim Rechnen und Nähen wichtig ist, „flexibel und beweglich gehalten“. Gleichzeitig sollen die Kinder unter anderem mit nicht alltäglichen Wörtern, die Teil der Geschichten sind, ein gutes Sprachgefühl entwickeln und lernen, einer Geschichte zu folgen. Und das tun die Kinder mit grosser Freude.

Mit dem Abschlusskreis und einem gemeinsamen Abschlusslied endet der Vormittag im Kindergarten um 12.00 Uhr meist draussen im Garten. Alle schütteln ihrer Erzieherin ein letztes Mal die Hand und schon geht es in die Arme der wartenden Eltern. Abgeholt werden kann bis 12.15 Uhr.

 

Alle weiteren Informationen zum Kindergarten finden Sie hier: Kindergarten

Bauernhoftag

Etwas anders geht es immer mittwochs bei den Kindergartenkindern zu. Da ist Bauernhoftag und beide Kindergartengruppen fahren zum Spielen und Helfen auf den Feldhof nach Scherzingen.

Einen Bericht dazu finden sie hier: Kindergarten auf dem Bauernhof

Anika Mahler (Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit)
Fotos: Anika Mahler, Tillmann Müller

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